Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee von Barbara Kirchner und Dietmar Dath
Keine Spur linker Aufbruchsstimmung. Wenn man
auf dem Grund angekommen ist, kann es nur noch aufwärts gehen. Was
die mantraartig wiederholte Erbauungsformel ausblendet: Man muss sich
auch auf den Weg machen. Zwanzig Jahre nach der Niederlage des 'real
existierenden' Sozialismus scheint linke Theorie im Tal ihrer
Bedeutungslosigkeit lieber Wurzeln zu schlagen. Wer
sich nicht über feuilletonaffine Phantasterei und rechthaberische
Klassiker-Exegese definieren will, sondern allem ideologischen und
praktischen Unbill zum Trotz ein produktives Verhältnis zur
verbesserungsbedürftigen und -fähigen Gegenwart sucht, wem
Žižek zu wirr, Boltanski/Chiapello zu akademisch und Lukács zu
gestrig sind, sollte zu dem vor einem Jahr
erschienenen Buch von Barbara Kirchner und Dietmar Dath greifen. Denn
statt postmodernem Lecken an philosophischen Fragmentbeulen
bieten sie eine Gesamtschau: Was war das eigentlich, dieser ominöse
soziale Fortschritt, den man seit dem 18. Jahrhundert zu
verwirklichen suchte? Wie ging nochmal Aufklärung und wohin wollte
sie?
Wo nicht allein schon das Wort Aufklärung hohle Proklamationsorgien
von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit auf den Plan ruft, wartet
oft ein entmutigender Befund: “Es ist das Paradox der Aufklärungen,
daß sie zu ihrer Bedingung machen muss, was doch erst ihr Produkt
sein kann“ (Hans Blumenberg). Zumeist wird aus diesem Umstand
gefolgert, dass sie deshalb unmöglich oder schädlich oder ihre
Paradoxalität ein idealisierter Selbstzweck sei. Andere ersticken
sie im Überschwang ihrer Umarmung. Aufklärung wird entweder zu
einer Rechtfertigungsmaschine für Ohnmacht und Terror (so etwas
mögen die Jünger Trotzkis und Maos gerne) oder zu einem
humanistischen Projekt, aus dem dann hier und da Reformen
hervorquillen, erklärt.
Dahinter steckt massive Unkenntnis bisheriger Aufklärungswellen,
seien es die Griechen der Antike, sei es die Ideengeschichte der
Neuzeit. Wo immer Theorie sich aus ihrer Verwandtschaft mit der
Theologie löst, verdoppelt sie sich in einen induktiv-empiristischen
und einen deduktiv-rationalistischen Arm und geht die
Wahlverwandtschaft mit der Wissenschaft von der Natur ein.
Schließlich tendieren zur Zweiten Natur geronnene soziale
Verhältnisse dazu, Individuen zu verdummen, bis unter Natur nur noch
tote Materie oder eine esoterisch waltende Urkraft verstanden werden
kann. Die Schnelligkeit, mit der Szientismus- und
Naturalismusvorwürfe in halbwegs gebildeten Kreisen formuliert
werden, verrät die Dringlichkeit einer Erneuerung. Um darauf pochen
zu können, dass alles ohnehin schon Gemachte auch weiterhin
veränderbar ist, braucht es ein Verständnis von Natur als das „der
Veränderung durch Kommunikationsakte nicht Zugängliche“. Denn
Aufklärung nicht als historisches Phänomen, sondern als politisches
Prinzip von heute für heute wüsste sonst nicht, worüber noch wie
aufzuklären. Gerade das allenthalben gefeierte konstruktivistische
Erkenntnisinteresse führt nicht dazu, Modernisierungsschübe zu
wagen, sondern gefällt sich in der Rolle, die Lernfähigkeit des
Kapitals auch dort noch zu garantieren, wo es widerständige
Potentiale zu aktivieren vermeint. Wo solche Aktivierung wirklich
gelingt, wird sie ihren Erfindungsreichtum für Entdeckergeist halten
müssen, wie es schon die Mütter und Väter des Naturrechts taten
ohne sich daran zu stören, dass 'Naturrecht' ein Widerspruch in sich
ist und nur durch Handeln rückwirkend wahrgemacht werden kann.
Mit dem Paul Valéry entlehnten Terminus Implex1
bezeichnen Kirchner und Dath die Doppelfigur von einer konkreten
Situation inhärenten Freiheitsgraden mitsamt ihrem
Erschließungsmuster. Diese Potentiale schlummern keineswegs irgendwo
in der subjektiven Rumpelkammer des Gattungswesens, doch gibt es sie
erst, sobald sie expliziert worden sind. Mit dem Implex-Begriff
korrigieren die Autoren manchen Konstruktionsfehler der klassischen
materialistischen Dialektik, von ihrem Substanzdenken bis hin zu
ihren eher lokalen Vorurteilen wie der reduktionismusanfälligen
Metapher von Basis und Überbau, ohne ihre zur gesellschaftlichen
Praxis drängenden rhetorische Kraft durchzustreichen. Dies ist der
Vorteil des Implex gegenüber der differance oder dem
Rhizom, welche als Alternativen zur böse-logozentrischen
Dialektik erdacht wurden: Statt endloser, Handlung hemmender
Feindifferenzierungen ermöglicht er die Veränderbarkeit sozialer
Tatsachen.
Dieses postkonstruktivistische Programm erfüllen Kirchner und Dath,
indem sie den relativistischen Zeitgeist auf beinahe allen Feldern
von Wissenschaft, Kunst bis zu der etwas knapp behandelten
Realgeschichte durch Nachweis (und nicht durch die grobschlächtigen
Behauptung) von Zirkelschluss, Selbstwiderspruch und Themaverfehlung
ad absurdum führen. Ohne diese Drecksarbeit wäre die Rede von einer
Universalität, die weder auf eine Eschatologie im Wolfspelz (diverse
Pauluslektüren jüngster Vergangenheit) noch auf die
apriori-Chimären von Habermas oder Rawls hinausliefe, gehaltlos.
Sozialer Fortschritt fährt weder auf Schienen noch marschiert er auf
Geheiß eines abstrakten Willens. Nachdenken in und mit dem Implex
erzwingt, die lassalleanische Verelendungstheorie und ähnliche
Kurzschlüsse ebenso auf Abstand zu halten wie Negri/Hardts
Verwechslung von Brosamen mit Revolution. Er erlaubt sogar einen
Blick hinter die Kulissen: Mechanismus und Voluntarismus stehen in
komplementärer Komplizenschaft. Gemeinsam haben sie das
cartesianische Denken in Nullen und Einsen. Lieber sprechen Dath und
Kirchner von etwas, das unter Linken (in der Schwarz-Weiß-Rhetorik
vieler Revolutionstheorien nicht anders als im Essentialismus mancher
Gesellschaftsanalysen) meist ausgeblendet bleibt und
verantwortungslos dem (Neo-)Liberalismus, seinen anthropologischen
Grundüberzeugungen bis hin zu seinen politökonomischen
Implikationen überlassen wird: Von Wahrscheinlichkeiten.
Seit dem Sieg des Bürgertums in der „atlantischen
Doppelrevolution“ hat keine Strömung des politischen Denkens die
Veränderbarkeit sozialer Tatsachen im Sinne der Aufklärung so
intensiv durchdacht und praktisch werden lassen wie der Sozialismus
marxistischer Prägung. Deshalb unterziehen Kirchner und Dath die
angestaubten Vokabeln des historisch-dialektischen Materialismus
einer breiten kritischen Revision. Eine undogmatische, aber durchweg
positive Lektüre von Lenins Parteitheorie taucht neben Peter Hacks‘
Überlegungen zu der Klassenstruktur im Sozialismus genauso auf wie
die Aneignung systemtheoretischer und pragmatistischer Begriffe;
Nicos Poulantzas und Alain Badiou erhalten nicht weniger Raum als
Friedrich August von Hayek und Carl Schmitt. Das
positive Element der Kritik, das, was man einst die bestimmte
Negation nannte, wird hier in sein Recht gesetzt. Ob man nicht
trotzdem die eine oder andere Anmerkung zu irgendeiner Spielart des
Neuplatonismus, der und der Entwicklung der anglophonen Philosophie
und noch einem wenig bekannten Science-Fiction-Werk auch mal
weglassen kann, bliebe dennoch zu überdenken. Gutes Lektorat ist
etwas anderes, Lesefluss auch.
Doch bevor man sich dem Antiintellektualismus Alexander Cammanns
anschließt, der in der ZEIT den Autoren „kalaschnikowartige
Selbstermächtigungsprosa“ vorhält, mache man sich klar, dass sich
in solch einem eben kalaschnikowartigem Urteil nicht zuletzt Scheu
und Abscheu des liberal-demokratischen Konsenses ausdrückt.
Treffender nennt der einzige Rezensent, der die holprigen 800 Seiten
durchgegangen zu sein scheint, Georg Fülberth, die beiden
„ideologische Trümmerfrauen“, zeichnet sie doch nicht nur
akribisches Wissen über das Gewesene und Vorhandene aus, sondern
auch der Blick für das (Wieder-)Aufzubauende - Aufklärung ist
Marxismus avant la lettre, Marxismus Aufklärung mit anderen Mitteln.
So gelingt dem Buch seine eigentliche Leistung: Die Entwicklung einer
Terminologie, welche dem Leser gleichsam in einem loop nicht
nur analytisches Werkzeug verschafft, sondern seine Wahrnehmung auf
Fakten setzendes Handeln eicht. Ein Denken in Möglichkeiten, das
nicht in die Utopiefalle geht, ist das Resultat. Wer heute noch die
Weltabgewandtheit der Linken beweint und nach der Einheit von Theorie
und Praxis fahndet: Hier ist sie.
1Die
Einzahl setzen die Beiden bewusst und analog zu dem Sprachspiel,
nach dem man auch von „der“ Vergangenheit reden muss, will man
die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.